Alois Nebel

„Manchmal überkommt mich so ein Nebel“. Mit diesem Satz beschreibt der Protagonist des gleichnamigen Spielfilmdebüts „Alois Nebel“ von Regisseur Tomáš Luňák die Zustände der Angst und der Verwirrung, denen er nur mithilfe des Rezitierens alter Bahnfahrpläne Herr wird. Wie diese Zustände aussehen, erfahren wir gleich zu Beginn des in seiner Optik und musikalischen Untermalung atmosphärisch dichten Films: Ein Zug rollt auf vibrierenden Schienen auf den Zuschauer zu, gleißende Lichtstrahlen durchbrechen das Bild; man hört, wie Befehle gerufen werden  – Leute sollen in einen Zug einsteigen, sich beeilen.  Sofort werden Assoziationen mit der Deportation von unzähligen Juden und anderen vom Nationalsozialismus verfolgten Personen in die Konzentrationslager des Dritten Reiches wach. Und doch handelt es sich in diesem Fall um ein anderes, bis heute vielfach verdrängtes und noch wenig aufgearbeitetes Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei ab 1945.

Hier, im Bílý Potok des Jahres 1989, einem verlassenen Lagerstandort im tschechisch-polnischen Grenzgebiet des Jesenik bzw. des Altvatergebirges, lebt der Fahrdienstleiter Alois Nebel (Miroslav Krobot) – ein stiller, in sich gekehrter Mittfünfziger, dessen einzige Kontakte ein Kater und der Weichensteller Wachek (Leoš Noha) zu sein scheinen, Letzterer ein geschwätziger Schieber von militärischen Versorgungsgütern und Sohn des gewissenlosen und dem alten Regime verhafteten „Alten Wachek“ (Alois Švehlík). Während sich der junge Opportunist Wachek wie ein Fähnchen im Wind den sozio-politischen Gegebenheiten anpasst, bahnen die Veränderungen durch den nahenden Zerfall des Ostblocks und der kommunistischen Regime für Alois eine Zäsur in seinem gewohnten Leben und seinem eher trostlosen Alltag an. Konkreter Auslöser hierfür ist das Auftauchen eines aus Polen „Rübergemachten“: So wie der Teller, auf dem Alois täglich die Milch für seinen Kater gießt, bei der Verhaftung des Mannes am Bahnsteig zerbricht, bricht etwas in Alois auf: Erinnerungen an ein traumatisierendes Ereignis aus seiner Kindheit werden wach, die Stimmen und Bilder aus dem Nebel der Vergangenheit nehmen immer deutlicher Gestalt an. Alois erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird – nicht zuletzt auf Zutun seines „Kollegen“ Wachek – in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dass hier neben psychisch Kranken ebenso von der politischen Führung und der gesellschaftlichen Norm als derartig eingestufte Personen „interniert“ sind, zeigt sowohl die Anwesenheit des am Bahnhof Festgenommenen, der nunmehr von allen „Der Stumme“ (Karel Roden) genannt wird, als auch die von jungen Männern mit langen Haaren und AC-DC T-Shirt oder im Afro-Look – beides Symbole des „dekadenten“ und zu bekämpfenden Westens.

Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich eine Besonderheit des Films: Durch den Animationsstil der Rotoskopie – „in echt“ gedrehte Szenen mit Schauspielern an realen Orten oder in Studios werden zunächst aufgenommen und dann Einzelbild für Einzelbild nachgezeichnet – tritt eine grafische Verfremdung ein, die dem Stil der dem Film zugrundeliegenden und erfolgreichen Graphic Novel „Alois Nebel“ nachgeahmt ist. Unwichtige Kleinigkeiten und ablenkende Dinge, die wir ansonsten visuell erfassen würden, sind einfach nicht sichtbar; der Blick wird – über das in üblichen Animationsfilmen gewohnte Maß – vereinfacht und auf das fokussiert, was wichtig ist. Inhaltliche und atmosphärische Details (etwa alte Fotografien an den Wänden, eine Tätowierung auf der Hand des alten Wachek, vorbeiwehende Blätter vor den Anstaltsfenstern) gehen nicht unter, sie stechen ins Auge. Zudem wirken die in diesem Verfahren entstehenden Bewegungen der animierten Figuren so authentisch wie abstrakt: Das Timing der Bewegungen wirkt in seiner Gesamtheit ob ihrer realen Grundlage und einem gelungenen Sound Design unheimlich echt, in Feinheiten jedoch abstrahiert und „verschoben“. Kenner von Richard LinklatersA Scanner Darkly – Der dunkle Schirm“ (OT: „A Scanner Darkly“) (2006) oder des häufig in Werbespots, Musikvideos oder Kurzfilmen eingesetzten Stilmittels der Rotoskopie werden den Eindruck wiedererkennen. Es dürfte sich in diesem Zusammenhang als Vorteil erwiesen haben, dass Regisseur Lunák vor „Alois Nebel“ gerade in diesen Filmmetiers zu Hause war.

Alois hingegen hat kein zu Hause mehr: Nach seiner Entlassung aus der Klinik steht er vor den Trümmern seiner Existenz, ohne Arbeit, ohne Wohnung und ohne Freunde. Über sehr geschickt eingebaute Informationsfetzen im Hintergrund des Geschehens – im Radio wird vom Fall der Berliner Mauer berichtet, ein Zeitungsverkäufer ruft die politische Rückkehr von Alexander Dubček aus, das Fernsehen zeigt die Wahl von Václav Havel zum Staatspräsidenten – erfahren wir von den gesellschaftlichen Geschehnissen der „Samtenen Revolution“, die parallel zur Handlung ablaufen und eine „neue Zeit“ einläuten. Für Alois bedeutet dies vorerst Obdachlosigkeit: Ohne Aussicht auf eine erneute Anstellung strandet er am Prager Hauptbahnhof und wird sogleich unter die Fittiche eines „erfahrenen“, zwielichtigen Obdachlosen genommen, durch den Alois die Bahnerwitwe und Toilettenfrau Kvĕta (Marie Ludvíková) kennenlernt. Behutsam finden die beiden einsamen Seelen zueinander, doch noch gibt die Geschichte Alois nicht frei – er muss sich erst seinen Erinnerungen stellen, um diese verarbeiten und einen Neuanfang finden zu können. Ob dieser zusammen mit Kvĕta erfolgt, welches Trauma Alois überhaupt zu überwinden versucht und welche Rolle der geheimnisvolle „Stumme“ spielt, schaue sich jeder selbst im Kino an. Verraten sei nur, dass der in starken Schwarzweiß-Kontrasten gehaltene Film nicht nur optisch dem Film-Noir ähnelt: Seine Spannung nimmt im Laufe der Zeit stetig zu und mündet in einer mitreißenden Katharsis.

In der Tschechischen Republik haben die von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 entwickelten und im deutschen Verlag Voland & Quist erschienenen Comicbücher rund um den Charakter des Alois Nebel Kultstatus. Nach einem – zugegebenermaßen stark eingeschränkten – Blick auf die Leseproben der Bücher scheint die Filmversion einiges vom humoristisch-schrulligen und derben Tenor der Graphic Novel gestrichen und stattdessen seinen Schwerpunkt auf die ernsten Passagen sowie die introvertierte und lakonische Seite des Charakters des Alois Nebel gelegt zu haben – sollte dies nicht der deutschen Synchronisation geschuldet sein, die in ihrer Interpretation jedoch angenehm überzeugt. Egal, ob man die Vorlage kennt oder nicht: „Alois Nebel“ ist ein packender und visuell äußerst ansprechender Film, der sich über den spezifischen Beitrag zur Aufarbeitung der jüngeren tschechischen Geschichte hinaus universellen Themen wie dem äußeren und inneren Wandel, der Schuld, Sühne und Vergeltung, dem Verlust der eigenen Identität und der Hoffnung auf einen Neuanfang annimmt und nicht zuletzt ob seiner interessanten Figuren wärmstens für einen Kinobesuch zu empfehlen ist.

Alois Nebel (OT: Alois Nebel)
D/CZ/SK 2011 / 84 min / FSK: o. A. / Negativ, Pallas Film, Czech TV, Tobogang
Regie: Tomáš Luňák
Drehbuch: Jaroslav Rudiš, Jaromír 99 (auf der Grundlage der Graphic Novel „Alois Nebel“)
Designer: Jaromír 99
Darsteller: Miroslav Krobot, Marie Ludvíková, Leoš Noha, Karel Roden, Alois ŠvehlíkTereza Voříšková …mehr
Produktion: Pavel Strnad
Musik: Petr Kruzík, Ondrej Jezek
Kamera: Jan Baset Střítezský

Offizielle Website: http://www.aloisnebel.cz/?lang=en

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